Auf der Suche nach dem Sinnenden Feuer
von Ivanka Stoïanova


Unter den zeitgenössischen Komponisten ist Jean Claude Eloy zweifellos der typisch nomadische und multikulturell Komponist. Sehr französisch (er ist Normanne, mit möglichen spanischen Ursprüngen) und sehr interkontinental, da seine Tätigkeit als Komponist geographische Grenzen systematisch ignoriert ; sehr modern, mit einer ungemein attraktiven Virtuosität im Zusammenspiel von Technologie/zeitgenössischer Musik, und gleichzeitig sehr "altertümlich", denn er ist stark von alten, aussereuropäischen Traditionen geprägt : der Musik Indiens, Tibets und Japans.

Die Werke von Jean-Claude Eloy versuchen (mit allen dem Komponisten von heute zur Verfügung stehenden akustischen und elektronischen Mitteln), die Entfernungen zwischen Raum und Zeit aufzuheben. Sie unterwandern und überschreiten die alten Grenzen zwischen der westlichen Tradition (die keinesfalls zurückgewiesen, sondern voll akzeptiert wird) und der gelehrten, aussereuropäischen Musik. Vielleicht geht es darum, die Musik des Jahres 2000 zu erfinden, die Musik des planetarischen Menschen, die wahrscheinlich eine Verlängerung der verschiedenen musikalischen Zlvilisationen sein wird, ineinander verschachtelt, sich durchdringend und in hohem Grade vermischt.

Die Tatsache, dass Eloy heute traditionelle Interpreten benützt wie z.B. die Gagaku Spieler und die Shômyô Sänger Japans, ist in seinem eigenen Werdegang als Komponist stark verwurzelt ; selbst in seinen im Kontext der post-serialen Avantgarde komponierten Werke der sechziger Jahre erkennt man Besonderheiten der Klangmasse, welche die Spuren aussereuropäischer Musik erkennen lassen.

Die Reaktion seiner beiden Kompositionsprofessoren (Darius Milhaud und Pierre Boulez) auf die Partitur von "Etude III" (1962, für ein doppeltes klassisches Orchester, wie bei Beethoven - aber mit fünf Schlagzeugern), ist in bestimmter Hinsicht bezeichnend : "Sie machen ja Shô's (Mundorgeln des Gagaku) sagt Milhaud ; "Das ist wie das Leitmotiv der Shô's", sagt Boulez, und beide meinen die komplexen, kontinuierlichen Texturen mit sehr feinen, internen Streicherausschmückungen, die dann abrupt von den Windinstrumenten unterbrochen werden : ihre grossen, sich harmonisch verändernden und ständig anwachsenden Crescendi, die dennoch eine Art vielfarbiges Klan gkontinuum bilden.

Dies ist auch der Fall in " Equivalences" (1963) für 18 Instrumente (vor allem das zweite Drittel des Werkes) integriert Strukturen gleichen Ursprungs : Anamorphosen "akustischer Gesten", wie es der Komponist ausdrückt. Harmonische Blöcke oder Felder von 6 Tönen verändern sich ständig gemäss den in Funktion der Anzahl gemeinsamer Töne in der Aneinanderreihung der Akkorde erstellten Möglichkeitsskalen. Unbewusst übernimmt Eloy zu jener Zeit eines der strukturellen Grundprinzipien des Gagaku.

"Faisceaux-Diffractions" (1970). In diesem Werk sind die 28 Instrumente in 3 stark isomorphe Orchester aufgeteilt, was die räumliche Behandlung der gleichen musikalischen Substanz ermöglicht, das Prinzip einer langsamen und mehr oder weniger variablen Wiederholung der Harmoniefelder entwickelt sowie eine sich ständig vervielfachende chromatische Ornamentierung unterstützt : Synthese und Spannung zwischen Variation und Wiederholung, die Suche nach dem Gleichgewicht zwischen der Ausuferung der Schrift und der für die Information notwendigen Wiederholung.

Die Behandlung des orchestralen, vokalen, elektronischen Tones und seine Projizierung in die zeitliche Dimension (die Form) beruht bei Eloy oft auf einer perfekt direktionellen, ebenfalls von der aussereuropäischen Musik geprägten Geste, (z.B. das Prinzip des Aufbaus der indischen Ragas, mit ihren "Alaps", von schwindelerregenden, virtuosen Improvisationen gefolgt)

"Kâmakalâ" (1971, Chöre, Orchester, drei Dirigenten) ist in Wirklichkeit ein einziges, mehr als 30 Minuten andauerndes, auf alle Dimensionen der Klangorganisation übergreifendes Crescendo, und illustriert den absolut kontinuierlichen Prozess der akustischen Energie. Die Exploration der zunehmend komplexeren Klangmasse führt in ihrem fortschreitenden Aufbau zu einem Pseudo-Zitat : zu einer sehr versteckten Anspielung auf ein Stück des Gagaku-Repertoires (das Stück "Etenraku"), welches aber durch Chromatisierung, Zersplitterung und Vermischung in der Textur der drei Orchestergruppen bis zur Unkenntlichkeit entstellt ist.

Der Einsatz der Stimmen bei Eloy tentspricht ebenfalls der Notwendigkeit einer planetarischen Oeffnung der vokalen Technicken, und steht weder im Zusammenhang mit dem Verfahren des Zitates noch mit der Collage. Am Anfang von "Kâmakalâ" sind es sehr tiefe, an die Musik tibetanischer Mönche erinnernde Stimmen, und in "A l'approche du feu méditant" (1983, eine Produktion des National Theaters, Tokyo) denkt man an Stimmen buddhistischer Shômyô Mönche.

Die Faszination Eloys für aussergewöhnliche und nicht-standardisierte Klangsituationen kommt in einem Werk wie "Anâhata" (1986) voll zum Ausdruck.

Das instrumentale Material besteht aus den Windinstrumenten des Gagaku, aber sonst existiert, ausser dem spezifischen Charakter der Instrumente, keinerlei Beziehung zum üblichen Stil dieser Musik.

Das vokale Material stützt sich auf eine andere Tradition, die des Shômyô - Gesanges, nacherlebt und verwandelt, um eine freie und "geschriebene" Komposition zu vollbringen (wie im ersten Teil von "A l'approche du feu méditant", dessen mit besonderer Graphik ausgestattete Partitur eine historische Premiere darstellte).

Die sehr strukturierte, instrumentalen und vokalen Interventionen einrahmende elektronische Komposante, wurde mit den technologischen Mitteln verschiedener europäischer Studios (Amsterdam, Berlin, Genf, usw.) ausgearbeitet, ausgehend von konkreten Materialien, Tönen des Shô, Stimmen, zahlreichen metallischen Schlaginstrumenten (Bonshô), Naturgeräuschen usw. und eine breite Palette von komplexen Schlaginstrumenten Asiens (Thailand, China, Korea, Japan).

"Anâhata" führt demnach - in Interaktion und gegenseitiger Verlängerung - zur Wiederspiegelung sehr verschiedener Klangwelten und verschiedener Organisationssysteme des Klangmaterials : Chromatismus ; Diatonismus ; Pentatonismus ; Mikro-Chromatik der ineinandergreifenden und nicht temperierten Räume ; Geräusche der Schlaginstrumente und "abstrakte" elektronische Töne.
Seiner eigenen Natur treu, verbannt Eloy jegliches banale Zitat zugunsten der einigenden und formalen akustischen Geste, welche die Verwandlung der Klänge in dem Endprodukt seiner sonoren Alchimie sichert.

Die Werke folgen sich manchmal in einer wirklich globalen Ergänzung. "Kâmakalâ" ist gedacht wie eine progressive Entfaltung der ursprünglichen vitalen Kraft, wie die Geburt der Welten. "Shânti" (elektroakustisch, 1972-73) ist Ausdruck dieser wiedersprüchlichen Energie in ihren langen Metamorphosen durch die Unendlichkeit. Angelegt wie ein Werk der Art "ewige Wiederkehr", kann sich "Shânti" durch sich selber einen Wiederbeginn schaffen, aber auch an dem punkt enden, wo ein neues "Kâmakalâ" beginnt.

In ähnlicher Weisefolgen sich "A l'approche du feu méditant" und "Anâhata", gemäss der Logik der Bewegung innerhalb derselben Galaxie. Es ist eine neue, in der kompositorischen Entwicklung Eloys notwendige Etappe, auf dem unwiderstehlichen, leidenschaftlichen und faszinierenden Weg hin auf das Unaussprechbare, auf diese tiefe, in zahlreichen Zivilisationen verwurzelte Wahrheit des Individuums. Er vermittelt uns, den Zuhörern, den Eindruck, an der Feier eines heiligen Rituals, wo die Zeit stillsteht, teilzunehmen.

In den langsamen Spiralen der "Zeit der Sterne" ignorieren die Werke Eloys die en gen Grenzen der Stücke für eine normale Konzertdauer. Sie dauern zwei, drei, vier Stunden, wie in dem elektroakustischen Werk "Gaku-no-Michi" (1977-78), oder den 4 Akten des imaginären Rituals "Yo-In" (1980), der lange Weg eines Schlagzeugers durch mehr als 100 Instrumente, in ihre elektroakustische Spiegelung-Verwandlung eingebaut.

Im Gegengsatz zu den statischen klanggeweben der Minimalisten, beruht die kompositionelle Strategie Eloys auf den grossen maximalistischen Klanggebäuden, auf einer Strategie des aufbauenden Prinzips der Kontraste (aber über lange Entfernungen, und durch ausgedehnte Verwandlungen) und basiert auf einem zutiefst dialektischen Prozess, mit der Absicht der Integration der Gegensätze in einem kohärenten Gesamtwerk. Momente grosser Gewalt und sehr verdichteter Bewegung verwandeln sich in abstufenden Prozessen in durchsichtige, meditative, fast unbewegliche Räume, gemäss einer gestuellen Logik der Entfaltung der Gegensätze, ihrer Vielfalt und ihrer Integration in das grosse Ganze.

Die wirkliche Grösse dieser Musik liegt weder in ihrem weltumfassenden Elan, noch in der Vielfalt der raffiniertesten Mittel und Techniken, weder in der Virtuosität des Komponisten noch in der Breite der Werke, es ist jene enorm menschliche Dimension, die den Virtuosen des Computers abhanden gekommen ist.

Die Werke Eloys tauchen uns ein in das "einzigartige Gold", wo wir den Phantasien des Erwachsenen, des Kindes, des Jugendlichen wiederbegegnen, der Suche nach uns in uns selbst und in der Welt. Es ist Jene nomadische, ewige und vor allem zutiefst menschliche Dimension, die die Anziehungskraft dieser "Spiralen einer selben Galaxie" ausmacht. Sie ist stets auf der Suche nach dem "Sinnenden Feuer" : " … Seine Meditation ist das Herz, d.h. die Weite der Welt, die erhellt und beschützt". (1)

1988
Ivanka Stoïanova
Docteur en Musicologie
Professeur à l'Université de Paris VIII

(Übersetzung : Monika Musto-Moreira und Maryse Eloy)

(1) Heidegger : "Alêthéia", Kommentar zu Heraklit (in "Essais et Conférences", Gallimard, 1958)

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